An Weihnachten sind die Erwartungen groß, ein paar Tage voller Harmonie und Liebe zu schenken– so oft kommt die Familie schließlich nicht zusammen. Doch was in großer Erwartung steht, endet oft in einer kleinen Vollkatastrophe – und den größten Familienstreits des Jahres. Nicht ganz unbeteiligt am Chaos, frage ich mich:
Muss das eigentlich so sein, wenn man erwachsen ist?
Und kann Verständnis für Disharmonie auch Harmonie herstellen?
Ein helles Glöckchen ertönt. Das ist das Zeichen, alle mögen sich jetzt bitte ins Wohnzimmer bewegen. Stühle rücken, eine stille Aufregung ergreift von allen Besitz.
Teller bleiben halbvoll im Esszimmer zurück, als sich die zehn Kinder und Erwachsenen durch die Tür schieben und unter Oh‘s und Ah’s den noch mit echten Kerzen aus rotem Wachs beschmückten Weihnachtsbaum bewundern.
Es ist Heilig Abend, und das Christkind war gerade im großelterlichen Haus, um die Geschenke um den üppigen Weihnachtsbaum zu laden. Es riecht nach Vanille und es ist warm, viel zu warm – wahrscheinlich ist das die Aufregung, denn selbst die Erwachsenen haben rote Bäckchen. Das Christkind haben wir, wie jedes Jahr, zwar gerade verpasst, aber die Enttäuschung hält angesichts der in funkelndes Geschenkpapier gewickelten Kartons nicht lange an. Was dann folgt, ist das, worauf wir alle den größten Teil des Jahres gewartet haben: Auspacken, pure Freude und Gelächter, Überraschungsausrufe, gemurmelte Gespräche unter Erwachsenen und Fotos, viele Fotos.
Ein Weihnachtsabend, wie er im Buche steht: harmonisch und liebevoll.
Fast Forward 25 Jahre:
Es gibt kein Glöckchen mehr, das Auspacken der Geschenke ist größtenteils dem gegenseitigen Überreichen von Karten gewichen und auch die Wachskerzen am Baum wurden durch Lichterketten ausgetauscht.
Heute gibt es Stühlerücken nur, wenn sich jemand Nachschub vom Buffet holen möchte, die geröteten Wangen kommen höchstens vom Wein oder von den Diskussionen, die entstehen, wenn Onkel Heinrich wieder anfängt, seine
„früher-war-alles-besser“-Parolen zu schwingen.
Statt das ganze Jahr voller Vorfreude auf den Weihnachtsabend zu warten, wird der Gedanke daran verdrängt, bis es quasi kein Entkommen mehr gibt.
Mit etwas Glück werden halbherzige Umarmungen unter Cousinen und Cousins ausgetauscht, Stühlerücken gibt es nur, wenn sich jemand Nachschub vom Buffet holen möchte und die geröteten Wangen kommen heute höchstens vom Wein – oder von den Diskussionen, die entstehen, wenn Onkel Heinrich wieder anfängt, seine „früher-war-alles-besser“-Parolen zu schwingen.
Das Weihnachtsmärchen der harmonischen Familie
Mir ist schon klar, dass das Thema Politik in der eigenen Familie vielleicht wirklich nicht die richtige Wahl ist, um Harmonie herzustellen. Und es ist ja nicht so, dass ich es freiwillig auf den Tisch bringe – aber wenn es jemand anders tut, muss ich mich schließlich aussprechen, meine Position klarmachen – ohne Rücksicht auf Verluste.
Sehr zum Leidwesen meiner Oma, die ohnehin schon mit Tränen in den Augen dasitzt, weil einer ihrer Söhne das Oh-so-festliche Weihnachtsessen mal wieder frühzeitig und tobend vor Wut verlassen hat, und wir Hinterbliebenen uns jetzt auch noch anschreien.
Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob es nicht doch Tränen der Rührung sind, weil die ganze Familie an einem Tisch sitzt – zumindest dem halbleeren Glas Wein vor ihr und dem latenten Grinsen auf ihrem Gesicht nach zu urteilen – schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass sie ihr Hörgerät vergessen hat und vom Streit gar nichts mitbekommt.
Eigentlich keine so schlechte Strategie.
Als nämlich der Hund von Cousine Petra auf den neuen Teppichboden pinkelt, scheint meine Großmutter den Tumult gar nicht weiter wahrzunehmen, und das ist ganz gut so. Denn jetzt ist die Katastrophe perfekt.
Gegenseitige Anschuldigungen, wieso der Hund nicht nochmal in den Garten gelassen wurde, gefolgt von Vorwürfen, Petras Partner würde ohnehin in letzter Zeit zu viel trinken und seine Pflichten schleifen lassen, die wiederum gekontert werden mit dem Argument, er hätte von Anfang Weihnachten nicht bei dieser „irren“ Familie verbringen wollen.
Das führt wiederum bei dem Rest der Familie zu Unmut, doch ich kann es ihm nicht übelnehmen: von Außen betrachtet muss es in diesem Haus zugehen wie in einer komplett übertriebenen Slapstick-Weihnachtskomödie.
Nicht nur wird sich angeschrien, es ist auch irgendwie offensichtlich, dass die meisten Anwesenden lieber gar nicht gekommen wären – und dafür schieben sie sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Als Petra jetzt nämlich ihrem Vater die Schuld daran gibt, dass ihr Mann diese Familie hasst, ist das der endgültige Startschuss für verbale Silvesterknaller jeder Art: alle Beteiligten fühlen sich befähigt, jetzt aber auch endlich mal ihre Meinung dazu beisteuern zu müssen und frei fließen zu lassen, was sie ohnehin schon immer mal sagen wollten. Beschimpfungen, Vorwürfe und Baguettescheiben vom Buffet fliegen durch die Luft, meine Schwester nimmt ihr schreiendes Kind und verlässt das Haus, aber nicht, ohne vorher ihrerseits eine Salve an wüsten Beleidigungen loszulassen. In dieser Familie hätte sich ohnehin noch nie jemand für sie und ihr Kind interessiert, sagt sie, und stapft durch die Haustür – nur, um noch einmal zurückzukommen: sie hat das Geschenk für den Kleinen und die Tupperdose mit den Resten vom Kartoffelsalat vergessen.
Ich fand ja schon immer, dass sie einen extremen Hang zu Dramatik hatte.
Früher war alles besser – ist da vielleicht was dran?
Man könnte sagen, heute ist es besonders schlimm, aber das wäre eigentlich gelogen.
Denn ich kann mich an kein Weihnachten in den letzten Jahren erinnern, das nicht in Tränen und Geschrei oder zumindest einem von beiden ausgegangen ist.
Die wirklich interessante Frage ist aber, war das schon immer so?
Haben wir das alles damals als Kinder nur ausgeblendet,
oder die Erwachsenen ihren Streit besser versteckt?
Oder sind damals wirklich alle besser miteinander klargekommen?
Kann es sein, dass es so viel harmonischer war?
Wann haben alle angefangen, so viele Vorwürfe gegeneinander zu hegen, die still und leise zu ausgewachsener Verachtung geworden sind?
Ich zum Beispiel würde ja nie bewusst einen Streit anzetteln. Das sind immer die anderen.
Außer halt, wenn die Kommentare meines Vaters mich auf die Palme bringen.
Oder der Mist, den mein Onkel von sich gibt, den keiner hören will.
Und was Tante Rosa’s Problem ist, die sich jedes Jahr am laufenden Band über das Essen beschwert, habe ich noch nie verstanden… und meine Cousins haben sich ohnehin schon immer zu viel rausgenommen.
Okay, vielleicht muss ich mir eingestehen, dass ich Teil des Problems bin – ganz frei nach Taylor Swift: Hi, it’s me – I’m the problem, it’s me.
Nicht ich allein, aber irgendwie tragen wir alle durch unsere Reaktionen zur unfeierlichen Atmosphäre bei, ob wir es nun wollen oder nicht.
Mit dem Unterschied, dass ich glaube, in meinen Reaktionen und Ansichten „Recht“ zu haben.
…wie alle anderen auch.
Aber ist es wirklich die Schuld meiner Oma, wenn uns der Wein nicht schmeckt – abgesehen davon, dass wir ihn so oder so konsumieren, als wäre dies ein Wettbewerb, in dem die Person mit dem größten Magen-fassungsvermögen für Rotwein gewinnt?
Und wieso kann ich nicht Verständnis haben, dass es in der Vergangenheit meines Onkels etwas gibt, dem er offensichtlich hinterhertrauert?
Haben wir nicht alle so etwas in unserem Leben und gehen damit einfach unterschiedlich um?
Haben wir nur Angst davor, uns selbst zu verletzlich zu machen?
Natürlich steckt im familiären Umfeld mehr Potenzial für die Aktivierung unserer alten Wunden und Traumata als irgendwo sonst.
Aber genauso, wie die Weihnachtstage mich schmerzlich daran erinnern, dass ich jetzt auch viel lieber mit dem Partner, den ich nicht mehr habe, bei Kerzenschein in trauter Zweisamkeit sitzen würde statt hier mit der Familie zu sein, haben auch alle anderen ihre Erfahrungen, die vielleicht besonders über die Feiertage hochkommen.
Ich glaube, wir haben manchmal Angst, uns selbst zu verletzlich zu machen, sobald wir anderen Menschen zugestehen, dass auch sie Verletzungen mit sich tragen – woraus immer die bestehen mögen.
Aber es ist nunmal einfacher, mit dem Finger auf andere zu zeigen, aufzuzählen, was sie falsch machen. Wann immer wir verurteilen und kritisieren, wirkt das wie eine Droge.
Dabei vergesse ich nur allzu gern, dass meine Unfähigkeit, dieses Weihnachtsessen abzusagen, nicht die Schuld von Onkel Heinrich oder Cousine Petra oder ihrem unerzogenen Hund ist.
Denn die verhalten sich seit 10 Jahren so.
Damit lässt sich kein falsches Verhalten rechtfertigen.
Aber Onkel Heinrich interessiert es nicht, was ich über ihn denke.
Der behält seine Meinung, egal was ich sage.
Es sind ja meine Gedanken, mit denen ich schlecht gelaunt zu Bett gehe.
Die Verurteilung rauszunehmen ist ein Geschenk an uns selbst, vielleicht sogar das größte, das wir uns machen können.
Lasst uns dieses Jahr Verständnis schenken.
Verständnis dafür, dass wir alle vielleicht eigentlich lieber ganz woanders wären – nicht nur an Feiertagen, sondern manchmal auch im Leben.
Vielleicht ist das der erste Anlauf an eine gemeinsame, harmonische Basis: Verständnis für Disharmonie.
In diesem Sinne: Frohe Feiertage!
***Alle Namen sind ausgedacht und die Ereignisse basieren auf losen, einzelnen Situationen, die sich in dieser Form irgendwo auf dieser Welt so hätten zutragen können.
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Bildcredits: Titelbild kaboompics via Pixabay. Bild im Text: buzukis, via Pixabay.