Prokrastination -Hochleistungssport oder Endgegner?

Der alljährliche Termin, um Weihnachtsgeschenke für die Eltern zu besorgen, findet dieses Mal zwei Wochen vor Weihnachten statt. „Später geht dann aber wirklich nicht, da krieg ich ja schon Schweißausbrüche vor Panik“, sagt meine Stiefschwester, während ich versuche, mir meine Panik nicht anmerken zu lassen. Panik nicht etwa, weil der Termin zu spät sei. Nein, in meinem Kopf funktionieren die Dinge andersherum:
der Termin ist mir viel zu früh, um Geschenke zu kaufen.
Ja, richtig gelesen.
Was sonst kann ich denn dann noch bis Weihnachten aufschieben?!

Als diejenige, die normalerweise am Heilig Abend das Schicksal mit den auf-den-letzten-Drücker-Käufern teilt (meist bestehend aus vielbeschäftigten Ehemännern und vereinzelten ihren Koffer-hinter-sich-herziehenden-Studierenden, die auf dem Sprung in die Heimat ’nur mal eben kurz‘ noch etwas besorgen wollten), bin ich ja schon stolz, wenn ich es überhaupt mal einen Tag vor Weihnachten in die Stadt schaffe.
Abgesehen davon sind die Innenstädte am 24. Dezember meist so gar nicht hektisch und überfüllt wie in den sechs Wochen zuvor, sondern bieten ein total entspanntes und besinnlich ruhiges Shopping-Erlebnis.

Was wäre, wenn ich jetzt Geschenke kaufe, und mir zwei Tage vor Weihnachten noch etwas besseres einfällt?

Klar, es gäbe da noch den Onlinehandel, damit ist alles viel einfacher, allerdings geht für mich erstens nichts über die Atmosphäre von Weihnachtsmärkten in geschmückten Innenstädten, mit dem Geruch von Glühwein und Bratäpfeln in der Nase, und zweitens setzt auch das Online-Geschenke-bestellen voraus, dass man, äh, nun ja, rechtzeitig bestellt.
Und das mit dem ‚rechtzeitig‘, das ist irgendwie nicht so meine Stärke.
Bedeutet nicht, dass ich mir nicht vorher Gedanken machen würde – das tue ich, wirklich! – aber es ist bei mir eben so, dass ich doch immer wichtigeres finde, als den Plan in die Tat umzusetzen. Und ganz unter uns gesagt: Wohnung dekorieren, Freunde auf einen Kaffee treffen oder das vor Monaten gekaufte Online Seminar endlich zu beginnen sind doch alles gute Gründe, um den Weihnachtseinkauf nur noch um einen, vielleicht zwei Tage, (‚ach, was soll’s, ich mach’s direkt nächste Woche‘) zu verschieben, oder?!
Kurz gesagt: Ich bin Profi im Prokrastinieren – das bedeutet, im unnötigen Aufschieben von Dingen oder „Unterbrechen von Aufgaben (…), sodass ein Fertigstellen nicht oder nur unter Druck zustande kommt.“
So sagt zumindest Wikipedia.

Ja, wir Aufschieber nerven –
und wir wissen es

Prokrastination ist, anders als viele glauben, eben nicht unbedingt Faulheit und Nichts-tun. Es bedeutet, die eine wichtige Aufgabe immer wieder aufzuschieben und sich in der Zwischenzeit mit anderen, unwichtigen, aber vermeintlich dringlicheren Aufgaben zu beschäftigen – ganz nach dem Motto: „Bevor ich die Steuererklärung machen kann, muss ich aber erst im ganzen Haus die Fenster putzen.“ Logisch, wer kann sich schließlich auf Finanzen konzentrieren, wenn die Fenster nicht geputzt sind?
Das geht dann oft soweit, dass die Aufgaben, die eigentlich nur als Ersatz dienen sollten, den ganzen Raum einnehmen und das eigentliche Ziel aus dem Sichtfeld drücken.
Klingt eigentlich ganz witzig, oder? Findet zumindest mein Umfeld.
Bis mein ewiges Aufschieben dann auch sie betrifft.

Prokrastinierer haben es nicht leicht beim Reisen – denn das zieht auch oft Zuspätkommen nach sich. Credits: ohne Nachweis, via Pixabay

Als notorische Prokrastiniererin bin ich beispielsweise auch Zuspätkommerin und habe damit nicht nur schon einige Flüge, Züge und andere Startmöglichkeiten in meinem Leben verpasst, sondern ich treibe mit meiner Last-Minute-Attitude vor allem auch die Menschen um mich herum in den Wahnsinn. Ganz besonders die, die mit mir reisen oder Termine haben. Letztens musste eine Freundin 45 Minuten draußen auf mich warten – 45 Minuten! – und ich kann nicht einmal mehr erklären, wieso. Es ist ja nicht so, dass ich herumsitze und der Zeit beim Vergehen zuschaue. Oder dass ich das Zuspätkommen plane. Natürlich nehme ich mir jedes Mal vor, es dieses Mal anders zu machen.
Aber irgendwie bin ich immer beschäftigt. Und dann, wenn es Zeit ist, kommt etwas unerwartetes und hält mich auf. Manchmal ist es das Suchen meines Schlüssels / Handy / Portemonnaie / setze-hier-einen-gegenstand-deiner-wahl-ein , das wie von Geisterhand in dem Moment, in dem ich hätte losfahren (…oder vor Ort sein) müssen, verschwunden ist. Vorher suchen war keine Möglichkeit, weil ich – ihr ahnt es – mit anderen Dingen beschäftigt war, um meine Sachen noch nicht zusammenpacken zu müssen.
Mit Fenster putzen zum Beispiel.
Oder mit YouTube-Tutorials zum streifenfreien Fenster putzen.

Jedes Mal, wenn zu viel Zeit zwischen mir und dem eigentlichen Ziel – dem Abflug, der Deadline, dem Treffen – liegt, werde ich nervös.

Ich kann einfach nicht anders. Jedes Mal, wenn zu viel Zeit zwischen mir und dem eigentlichen Ziel – dem Abflug, der Deadline, dem Treffen – liegt, werde ich nervös. Zu viel Zeit, die es totzuschlagen gilt, setzt mich unter Druck, also suche ich mir eben andere Dinge, die ich vorher tun kann, und verliere mich allzu oft darin.
So richtig wohl fühle ich mich erst im Chaos, wenn alles dahinfließt, wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, innezuhalten oder nachzudenken oder umzudenken oder zu planen, weil der Zeitdruck so hoch ist und es nur noch ein übergeordnetes Ziel gibt:

MACH, DASS DU DIE NÄCHSTE ETAPPE ERREICHST!

Ist ein bisschen, als würde mein Gehirn – und mein System – erst dann zur Höchstleistung auflaufen, wenn für andere schon alles verloren ist: wofür im Februar mit Sport anfangen, wenn der Urlaub erst im Juli ist und ich in der Zeit doch Serien bingen statt Gewichte stemmen kann? Wozu drei Stunden vor Abflug da sein, wenn ich doch rechtzeitig zum Boarding direkt vom Security Check quasi ins Flugzeug durchlaufen kann?
Wieso zehn Minuten früher zur Vorlesung erscheinen, – in der ich wohlgemerkt die Dozentin bin, nicht die Studentin – wenn ich die gewonnene Vorlaufzeit nutzen kann, um die restlichen Unterlagen vorzubereiten?

Ist das noch Prokrastination
oder ist das schon wichtig?

Ja, ich weiß schon, was Experten und Coaches und Therapeuten jetzt sagen würden. Spart euch die Diagnosen und lieb gemeinten Tipps – all das habe ich selbst schon durch. In Coachings, Therapiesitzungen und dank Dr. Google alle möglichen Ansätze ausprobiert, um die Prokrastination zu heilen.
Ich – und alle Prokrastinierer dieser Welt, da bin ich mir sicher – kenne die Tipps, genau wie den Ursprung (Spoiler: kommt meist aus der Kindheit, hat viel mit Perfektionismus und der Angst vorm Scheitern zu tun) und ich habe weeiiiiiß Gott viel Zeit darauf verschwendet, das Unvermeidbare ändern zu wollen, die Prokrastination ausradieren zu wollen wie einen Rotweinfleck auf der weißen Lieblingsbluse.
Jedes Mal ohne Erfolg.
Wie heute.

Ob ich am Dienstagabend um 22:16 Uhr noch mit Laptop auf dem Sofa hocke, um einen völlig neuen Artikel zu schreiben, obwohl ich wirklich schlafen muss und außerdem seit zwei Wochen einen Entwurf zu einem ganz anderem Thema in der Schublade habe, der so gut wie veröffentlichungsreif ist?
Vielleicht.

Ob ich den den halben Tag damit verbracht habe, statt Unterrichtsvorbereitung oder Steuererklärung zu machen, Blogartikel und Youtube-Videos zum Thema „Prokrastination beseitigen“ zu konsumieren? Als wüsste ich nicht, dass die Suche nach Lösungen für Prokrastination wiederum ein Akt der Prokrastination in sich selbst ist?
Schon möglich.

Dabei müssten doch gerade wir, die Hochleistungsprokrastinierer, es besser wissen, oder?

Die Suche nach Lösungen gegen Prokrastination ist oft schon ein Akt der Prokrastination selbst.

Selbst im Studium vor 9 Jahren habe ich sämtliche Hausarbeiten und Lernaktivitäten bis zum letzten Moment rausgeschoben. Es war ja nicht so, dass ich nicht versucht hätte, früher mit dem 12-Seiten-Essay zu Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Grey“ anzufangen.
Oder mir nicht jedes Mal, wenn ich nach durchgearbeiteten Nächten mit Augenringen so dick wie die gesamte Shakespeare-Klassik-Kollektion meine Arbeiten einreichte, mir aufs Neue vorgenommen hätte, in Zukunft anders vorzugehen.
Beim nächsten Mal, ja, da fange ich früher an, ganz sicher.
Dann werde ich Tage, ach, Wooochen vorher fertig sein und vor der Abgabe so richtig entspannen.

Der Teufelskreis des Aufschiebens: „Beim nächsten Mal wird alles anders.“
Credits: Brett Jordan via Unsplash.

Ich glaube jede Person, die in irgendeiner Form schonmal lernen oder große Arbeitsprojekte abgeben musste, kennt das.
Das Problem: Irgendwie scheint das Gehirn jedes Mal erst die typischen zwei Nächte vorher zur Höchstleistung aufzulaufen.
Egal, wie früh wir anfangen, egal, wie gut wir es meinen – bevor wir es merken, sind wir schon längst in den Sumpf der Aufschieberitis gefallen, die sich solange als Recherche, Wissensaneignung oder Vorbereitung tarnt, bis es dann heißt: huch, haben wir wirklich schon so spät?

Bei meiner Bachelorarbeit damals zum Beispiel, das habe ich wirklich früh angefangen. So wirklich, richtig früh. Hatte sogar genug Zeit, die in Englisch verfasste Arbeit von meinem damaligen Freund, der englischer Muttersprachler war, Korrektur lesen zu lassen.
Habe sogar mehrere (!) Tage vor Abgabe gedruckt.
Das, was normale Menschen eben so tun.
Leider war es eine völlige Katastrophe – nicht die Arbeit an sich, die wurde mit der Note 1,3 bewertet.
Aber für mich war es eine Katastrophe.
Die Entscheidung zu treffen, ganz ohne Zeitdruck, ganz von innen heraus, die Arbeit sei jetzt fertig, abgabereif.
Das nagende Gefühl, ich hätte in der verbleibenden Zeit noch so viel mehr umschreiben können, verbessern können, die letzten Nächte nutzen müssen, ließ mich einfach nicht los.

Trotz der guten Bewertung, das Gefühl, ich hätte noch mehr rausholen können, hätte ich die Zeit bis zur letzten Minute voll ausgeschöpft, blieb.
Also habe ich es zu meiner Masterarbeit prompt anders gemacht:
Zwar fing ich auch hier „früh genug“ an, doch zwei Tage vor Abgabe packte mich wieder die altbekannte Panik, nicht genug ausgeschöpft zu haben – und so schrieb ich das komplette Ding noch einmal um.
Jap, richtig gehört. Zwei Tage vor Abgabe.
Eine 60-seitige Arbeit umgeschrieben.

Prokrastination kann auch zu Momenten der Klarheit führen. Zu solchen, nach denen wir die ganze Zeit gesucht, sie aber vorher nie gefunden haben.

Auch, wenn ich meinen Mitbewohnern mein ungeduschtes, von Red-Bull und Zucker ernährtes Zombie-Ich und die zwei komplett schlaflosen Nächte (und Tage) nicht so richtig erklären konnte – ich war mir innerlich nie klarer darüber, dass ich gerade das richtige tat.
Und das, liebe Leute, ist auch, wozu Prokrastination führen kann: Zu Momenten der Klarheit, nach der wir die ganze Zeit zuvor gesucht, sie aber nie gefunden haben.

Ein Phänomen, dass ich noch so einige Male in meiner beruflichen Laufbahn nach schlaflosen Nächten vor wichtigen Projektabgaben erleben – und meine Arbeitskollegen damit in den Wahnsinn treiben – durfte. (Grüße gehen raus an meine ehemaligen Lieblings-Hamburger-Agenturkollegen: Ihr seid einfach die besten).

Das Beste, was wir tun können? Unsere unliebsamen Verhaltensweisen annehmen.

Übrigens: auch meine Masterarbeit wurde mit 1,3 benotet.
Bevor das hier jemand falsch versteht – das ist kein Aufruf zum Prokrastinieren. Ich glaube nicht, dass Arbeit auf den letzten Drücker qualitativ hochwertiger ist.
Das Problem ist nur, dass ich bei allem „Prokrastinieren zerstört dein Leben“ bisher ja irgendwie doch immer damit Erfolg hatte – und stattdessen jedes Mal gescheitert bin, wenn ich die Dinge „normal“ anging – soll heißen: mit Planung und Zeitpuffer.
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Was ich damit sagen will, ist, dass wir vielleicht aufhören sollten, manche Eigenschaften und Angewohnheiten ändern zu wollen, nur weil sie unliebsam sind.

Würde ich mir selbst – und meinen Mitmenschen – ohne das ewige Aufschieben und Prokrastinieren unendlich viel Stress sparen?

Auf jeden Fall.

Bleiben durch das ganze Aufschieben nicht viele Projekte auf der Strecke, von denen ich schon lange träume?

Ja, leider, leider Ja.

Steckt hinter dem extremen Verhalten nicht doch nur eine versteckte Angst, nicht gut genug zu sein, etwas falsch zu machen?

Aber hundertprozentig tut sie das.

Wieso müssen wir immer alles optimieren bis zum geht-nicht-mehr? Ist es nicht das, was uns den größten Teil unserer Kraft raubt?

Aber, was doch viel wichtiger ist: Stress und Angst hin oder her – meine Strategie funktioniert für mich. Wieso müssen wir immer alles optimieren bis zum geht-Nicht-mehr? Ist es nicht das, was uns den größten Teil unsere Kraft raubt?
Macht es uns nicht auch individuell, unsere Angewohnheiten anzunehmen, die einen Teil unserer Persönlichkeit ausmachen?
Denn, ganz ehrlich: ich mag meine Art, zu arbeiten.

Ich mag die gelegentlichen Nachtschichten, in denen ich all mein geballtes Wissen und Ideen aus dem Gehirn in einem Anflug von Hyper-Produktivität und Fokus zu Papier bringe.
Das Gefühl, das beste herauszuholen, einfach weil vor lauter Zeitdruck kein Raum zum Nachdenken mehr da ist: nichts ist da, zwischen meinen Ideen und dem Papier.
Mit dieser Einstellung hätte ich mir in den letzten Jahren so viel Stress – und Zeit – ersparen können. Wenn ich all das einfach als Teil von mir angenommen hätte, statt immer zu versuchen, diese Eigenschaft zu bekämpfen. Es beim nächsten Mal wieder „anders“ machen zu wollen und stattdessen die Zeit zu genießen.
Ach, wie viele Staffeln Friends ich anstelle der Videos übers Prokrastinieren hätte gucken können!

Christmas Shopping aufschieben oder lieber früh erledigen?
Credits: Michelle, via Pixabay.

Der Blogger und Speaker Tim Urban sagt in seinem TED-Talk „Inside the mind of the Procrastinator“, er habe eine 90-seitige Arbeit in drei Tagen geschrieben und das Feedback bekommen, es sei die beste Arbeit überhaupt – und ich habs ihm geglaubt.
Was er als Scherz auflöst, ist für mich Realität: Die besten Ideen kommen in meiner Welt tatsächlich meist unter Druck.

Was den Kauf der diesjährigen Weihnachtsgeschenke betrifft, muss ich leider das kreative Denken meinen Schwestern überlassen – für Ideen von meiner Seite ist es einfach noch viel zu früh.
Andererseits, wenn ich an all die unfertigen Projekte und Aufgaben denke, die im Dezember noch anstehen, ist es vielleicht gar nicht so schlecht, die Geschenke schon vorzeitig zu haben.
Das gibt mir vor den Weihnachtstagen vielleicht nochmal Zeit, die Trauerstätte meiner begrabenen Ideen zu besuchen, die ich doch schon so lange angehen wollte – um sie dann tatsächlich anzugehen.
Also, ganz vielleicht. Vorausgesetzt, es kommt nichts dazwischen.
Und vorausgesetzt, meine Fenster sind dann geputzt.

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*Bildcredits Beitragsbild: Ella Jardim, via Unsplash. 
Weitere Bildcredits in Bildbeschriftung.

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