Das Bild der selbstbestimmten Frau – wie ging das noch gleich?

Das Bild der selbstbestimmten Frau ist so klar wie nie: sie steht fest im Leben, ist ganz und gar unabhängig, sorgt ganz smart für ihr Alter vor – und hat mit spätestens 30 ihr Leben, ihre Finanzen und ihre Gefühle im Griff. Eine Beziehung will sie natürlich auch nicht, weil sie komplett mit sich allein glücklich und der Welt um sich herum im Reinen ist.

Kommt da noch jemand mit?
Ich weiß nicht, wie es euch so geht, aber auf Instagram und in Zeitschriften häuft sich momentan das oben beschriebene Bild – und ich habe damit ein Problem.
Nicht, weil es ein Problem wäre, wenn jemand diese Werte und Ziele wirklich für sich auslebt.
Sondern weil dieses meist von außen auferlegte Bild immer öfter suggeriert, wir können als Frau nur selbstbestimmt sein, wenn wir all diese Kriterien erfüllen.
Das kann nicht nur respektlos sein, sondern auch das Gegenteil von zielführend.

Wieso wir uns dringend von der Vorstellung lösen sollten, mit über 30 allein komplett glücklich sein zu müssen und mit ETFs, Bitcoins und Immobilien für die Rente vorgesorgt zu haben? Erkläre ich jetzt.

Wahre Selbstbestimmtheit fängt nicht erst bei Sparplänen und Investments an oder darin, den Lebenssinn im Alleine-Glücklich-Sein zu finden.

Das Problem liegt nicht in der Investition oder der Information, die vermittelt wird.
Es geht um das Bild, das dahintersteht.
Wahre Selbstbestimmtheit fängt nicht erst bei Sparplänen und Investment an oder etwa darin, den Lebenssinn ganz im Alleine-glücklich-Sein zu finden.
Nein, Selbstbestimmtheit bedeutet, anzuerkennen, was ist: einfach mal anzunehmen, dass mein Budget es gerade nicht hergibt, groß zu sparen oder anderweitig für meine Rente vorzusorgen, wenn die Zahnarztrechnung von letztem Monat nicht gezahlt werden kann. Interessanterweise ist das ein Thema, über das selten offen gesprochen wird, denn während die Prämisse, eine selbstbestimmte Frau sorge für sich selbst, stets im Vordergrund steht, wird vergessen, dass die Lebensrealität vieler Frauen auch jenseits der 30 ganz anders aussieht.
Was bedeutet, dass wir in der öffentlichen Diskussion an völlig andere Stelle ansetzen müssten.

Denn wenn Betroffenen täglich vor Augen geführt wird, wie essentiell es sei, in sich selbst zu investieren (ein Claim, der auch in der Coachingwelt gern genutzt wird, um absurd hohe Summen aufzurufen), führt das vor allem zu einem: dem Gefühl, das eigene Leben nicht im Griff zu haben, etwas ganz gewaltig falsch zu machen, eben weil die eigene Lebensrealität nicht dem Bild der selbstbestimmten Frau entspricht, das mir in der bunten Instagramwelt vorgegeben wird.
Da werden Programme für mehrere Hundert oder sogar Tausend Euro verkauft, die mir beibringen wollen, wie ich richtig investiere – und endlich meine eigene Altersvorsorge in die Hand nehme. Geld, das ich schon längst anderweitig investieren könnte. Zum richtigen Problem wird das dann, wenn das Budget gar nicht da ist, und die Bewerbung dieser Programme – immer schön mit dem Bild der Frau, die nur dann selbstbestimmt ist, wenn sie diese Dinge selbst in die Hand nimmt – einen solchen Druck aufbaut, dass neue Schulden gemacht werden, um „endlich in Handlung“ zu kommen.

Bin ich etwa so lange eine fremdbestimmte Frau, bis ich es schaffe, den Wunsch nach Partnerschaft abzulegen und selbst für meine Altersvorsorge zu investieren? Und was ist dann mit den Frauen, die Kinder haben und vom Einkommen des Partners leben?

Da können noch so viele sagen, wie dumm es war, nicht vorher über solche Dinge nachgedacht zu haben und eine selbstbestimmte Frau hätte sich gar nicht erst in diese Situation gebracht.
Aber Scham und Schuld helfen da leider auch nicht mehr weiter – oder könnt ihr mir eine Situation nennen, aus der jemand im wörtlichen Sinne „herausgeschämt“ wurde? Nein? Gut.
Ich auch nicht.
Das führt höchstens zu noch mehr Lähmung in Bezug auf die eigene Situation, genau wie der Druck. Ganz abgesehen davon, dass einige Grundbedürfnisse bei dem verbreiteten Bild der selbstbestimmten Frau (wie die nach Nähe und Beziehung) einfach mal völlig übergangen werden.
Ja, es gibt immer Wege, noch unabhängiger zu werden, vielleicht ist es auch eine Frage der Priorität.
Aber da müssen wir uns erstmal hinarbeiten, oder?
Was ist bis dahin – bin ich solange eine fremdbestimmte Frau, bis ich es schaffe, meine offenen Rechnungen zu begleichen, den Wunsch nach Partnerschaft abzulegen und endlich für meine Altersvorsorge zu investieren? Und was ist dann mit den Frauen, die vielleicht Kinder haben, und, aus welchen Gründen auch immer, vom Einkommen des Partners oder der Partnerin leben?
Es wird verdammt nochmal Zeit, das Bild umzudrehen.

Es erfordert Mut, sich der eigenen Situation bewusst zu werden

Vielleicht können wir anerkennen, dass das Leben entgegen aller Erwartung, „auf festem Boden zu stehen“, kein Spaziergang ist. Dass es schon unglaublich viel Mut erfordert, sich überhaupt bewusst zu werden, in welcher Situation Frau steckt und wie sie dareingeraten ist.

Anzuerkennen, dass die meisten von uns sich nicht trauen zu sagen, dass sie in ihrem ach-so-perfektem-Job, der zwar vorsorgt, eigentlich unglücklich sind. Oder dass die Selbstständigkeit, die zwar überaus erfüllend ist und Freiheit gibt, leider nicht genug abwirft, um ordentlich für sich selbst vorzusorgen. Erst wenn wir die jetzige Situation anerkennen, statt uns in eine andere Situation zu wünschen, können wir doch erst aktiv werden.

Beginnt wahre Selbstbestimmtheit nicht dort, wo wir unsere eigenen Gefühle wahrnehmen, statt einem von außen auferlegtem Bild entsprechen zu wollen?

Jede Lebenssituation ist immer individuell, und so ist es auch die Selbstbestimmtheit.
Wir haben schon alle Hände voll zu tun, indem wir versuchen, ein Leben aufzubauen, das wir lieben – wie auch immer das aussehen mag.
Bestimmen wir denn nicht bereits über uns selbst in dem Moment, indem wir entscheiden, die Yogastunde heute nach der Arbeit ausfallen zu lassen, weil die Kraft fehlt? Statt zu meditieren eingerollt auf dem Sofa Netflix zu gucken und einfach mal allen Frust, immer alles allein machen zu müssen, rauszulassen? Geschweige denn, sich mit irgendwelchen Sparplänen zu beschäftigen.
Weil manchmal schon das zu viel verlangt ist.

Beginnt wahre Selbstbestimmtheit nicht dort, wo wir unsere eigenen Gefühle und Wünsche überhaupt wahrnehmen, statt einem von außen auferlegtem Bild entsprechen zu wollen?


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