Es ist vor allem goldenes Licht und der Geruch von Vanille, an den ich denke, wenn ich mich an die Kindheitstage bei meinen Großeltern erinnere. An Regen erinnere ich mich kaum. Dafür an die Sonnenstrahlen, die wie flüssiges Gold durch die Wohnung strömten und die selbstgemachten Stickbilder meiner Oma beleuchteten sowie die detailreichen Malereien meines Opas an der Garagentür. Selbst das kleine Esszimmer war in meiner Wahrnehmung komplett golden, mit seinem großen Holzesstisch und und der tickenden Wanduhr. Die Keksdose, die immer rechts auf der Anrichte stand, wenn man den Raum betrat, nahmen die meisten Besucher zunächst gar nicht wahr –
dabei wussten alle, die meinen Großvater wirklich kannten: sie war der größte Schatz, das wahre Gold in diesem Haus.
Mein Opa war ein fröhlicher Mensch. Er hat gern gefeiert. Dafür gab es sogar extra im hauseigenen Keller einen kleinen Partyraum, so richtig mit Teppich, Sofas und Partydeko. Passend dazu war der Kelleraufgang geziert von dem handgeschriebenen Spruch:
„Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit’ren Stunden nur“.
Nicht nur sein Haus und Essen, sondern auch Momente hat er gern mit anderen geteilt.
Solange, wie ich mich erinnern kann, war das Haus erfüllt von Gesängen, Lachen, und Menschen.
Das einzige, was er nicht geteilt hat, war seine Keksdose.
Die war ganz für ihn allein reserviert, für seine eigenen kleinen Glücksmomente zwischendurch. Sie war aus diesem Glas mit breiten Boden und Glockendeckel, die Art, die mir als Kind so pompös erschien. Das müssten ganz besondere Kekse sein, die da in der Dose aufbewahrt wurden, dachte ich, denn mein Opa wusste immer genau, wie viele Kekse in der Dose waren, und nicht einmal meine Großmutter oder seine Kinder durften den heiligen Glockendeckel anheben.
Wie so viele Menschen der Kriegsgeneration gehörten meine Großeltern zu denen, die materiell gesehen nie besonders reich waren, aber in Wahrheit so viel mehr hatten, als viele andere.
Mein Opa hat als Mitglied des lokalen Gesangsvereins gern gesungen, dessen Sänger sich des Öfteren um den niedrigen Tisch im Wohnzimmer versammelten und tranken – nach dem Singen, versteht sich.
Vor allem folgende Verse eines Lieds sind mir besonders in Erinnerung geblieben:
„Ich steh‘ auf der Brücke und spuck‘ in den Kahn,
da freut sich die Spucke, dass sie Kahn fahren kann.“
Ob singend oder nicht, jede Art von Besuch im großelterlichen Heim war immer willkommen, jeder Besucher bekam immer ein bisschen mehr Essen auf den Teller und ein bisschen (viel) mehr Likör ins Glas, als gewünscht.
Ich mochte diese Nachmittage, diese Abende voller Gelächter, auch wenn ich vor dem besten Freund meines Großvaters, Herrn L., ein bisschen Respekt hatte.
Herr L. schien nicht nur die doppelte Körpermasse, sondern auch die doppelte und Arm- und Brustbehaarung der anderen zu haben. Er trug dicke Ringe und Ketten und lachte mit dröhnender Stimme.
Allerdings konnte meine Abneigung mich nicht davon abhalten, das obligatorische
Fünf-Mark-Stück anzunehmen, dass Herr L. mir und meiner Schwester regelmäßig zusteckte. Er und seine Frau, die mit dem liebenswürdigen Blick und dem faltenumzogenen Mund, hatten keine eigenen Kinder oder Enkelkinder, und freuten sich so umso mehr darüber, meine Schwester und mich zu beschenken. Wie mein Großvater selbst, war er von Menschen umgeben, die die größte Freude am Teilen hatten.
Nur wenn sich jemand dem Esszimmer nährte, konnte ein Ruf der Warnung – meist von meiner Großmutter – vernommen werden: Aber bloß nicht an die Keksdose.
Die gehört Opa.
Bei allem, was an fröhlichen Abenden mit dem Gesangsverein auf den Tisch kam, blieb die Keksdose stets verschlossen. Nicht einmal meine Mutter durfte die heilige Keksdose öffnen. Und wir wären auch nie auf die Idee gekommen, ranzugehen.
Was braucht man zum Glücklich sein?
Das Gesangtalent unseres Großvaters haben weder meine Schwester noch ich vererbt bekommen, was uns allerdings nie davon abhielt, unsere Stimmbänder bis zum Zerreißen zu spannen, wenn wir durch die golddurchfluteten Räume tanzten und unser unfreiweilliges Publikum, bestehend aus Oma und Opa, zwangen, unsere neu erlernten Gesangs- und Tanzeinlagen zu diversen Enrique Iglesias-Songs zu begutachten. Aber unsere enttäuschenden Gesangsfähigkeiten hielten Opa nicht davon ab, uns zur Belohnung leckeres Waffeleis aus der Truhe im Keller zu geben.
Besonders an den warmen Sommertagen, wenn die harten Stricke der Hängematte unter dem Apfelbaum tiefe Abdrücke in der Haut hinterließen und die Füße nass vom Planschbecken waren, nahm Opa uns bei der Hand und führte uns in den Raum neben dem Partykeller. Die Luft war ganz erfüllt mit dem warmen, süßlichen Geruch von Sommer und Zucker, und dann durften meine Schwester und ich uns ein Eis aussuchen.
„Aber sagt Oma, das hier ist euer Erstes“, pflegte er uns auch beim vierten Mal desselben Tages zu sagen, wenn unsere Hände schon ganz klebrig und die Köpfe überzuckert waren, bevor er uns wieder zurück in den Garten schickte, wo die Hängematte unter unserem Eis-Gewicht gefährlich nahe über dem Planschbecken schaukelte.
Wie so viele Menschen aus der Kriegsgeneration gehörten meine Großeltern zu denen, die materiell gesehen nie besonders reich waren, aber in Wahrheit so viel mehr hatten als viele andere, die sich unter ihren Besitztümern vergraben.
Zum Glücklich-sein brauchte mein Großvater nichts weiter als sein Malen, sein Singen und Menschen, mit denen er diese Dinge teilte.
Und seine Keksdose, die brauchte er auch, ganz für sich allein.
Dann, an jenen Nachmittagen, wenn meine Großmutter gerade nicht hinsah und wenn wir unsere fünf ersten Eis des Tages gegessen und alle anderen ihren Likör getrunken hatten, rief er mich und meine Schwester nacheinander ins kleine Esszimmer, nahm die Keksdose von der Anrichte – und ließ uns reingreifen.
Kein Kommentar, keine Erklärung, eine stille Übereinkunft zwischen uns.
Jedes Mal aufs Neue durchfuhr mich die Aufregung, und ein Gefühl des Verbotenen: Ich durfte mir ein Keks aus Opas besonderer Dose nehmen?
Sicher würde ich dieses Mal einen ganz besonderen Keks erwischen,
einen von denen, die so magisch waren, die diese Dose so heilig machten?
Doch was blieb, war jedes Mal aufs Neue Enttäuschung:
Alles, was ich bekam, war ein gewöhnlicher, nicht besonders leckerer Keks.
Ich fragte mich öfter, was genau an dieser Dose nun so besonders sein sollte, aber stellte nie zur Diskussion, dass sich irgendwo darin die besonders magischen Kekse versteckten, von denen nur mein Großvater wusste, welche es waren.
Es war schlicht meine Aufgabe, einen davon zu erwischen.
Es gelang mir nie.
Ich wünschte, ich hätte schon damals die Bedeutung der Keksdose verstanden.
Heute wünsche ich mir, ich hätte damals schon die Bedeutung der Keksdose verstanden. Hätte verstanden, dass es meinem Großvater niemals um die Keksdose oder die blöden Kekse darin ging. Sondern um einen Moment, den er ganz still und heimlich mit mir und meiner Schwester teilte.
Ich wünschte, ich könnte ihm erzählen, dass ich eines Tages auch so ein Zuhause für andere Menschen schaffen möchte, wie das, an dem er uns hat teilhaben lassen.
Ein Zuhause voller Leben.
Ein Zuhause mit Keksdosen-Momenten, von denen niemand weiß – außer, dass natürlich alle in der Familie davon wissen.
Aber das ist eines dieser Lebensweisheiten, die man erst viele Jahre später versteht –
für uns sind die Dinge, die wir kennen, so lange selbstverständlich, bis wir sie nicht mehr haben.
Bis wir eines Tages aus anderer Perspektive darauf zurückblicken können.
Ich wünschte, ich hätte keine Angst vor meinem Großvater gehabt, als die Krankheit Alzheimer ihn Stück für Stück vor unseren Augen eingenommen hat. Manchmal denke ich, ich hätte mich damals an die warmen Stunden erinnern müssen, die er für uns geschaffen hat, um ihm ein paar davon zurückgeben. Diejenige zu sein, die ihm die Keksdose reichte. Aber ich war noch viel zu jung, und die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, und die Erinnerung ist, was jetzt bleibt.
Außer der Erinnerung bleibt meine Kreativität, meine Liebe zum Schreiben
und zum Sommer – und ich weiß, dass ich beides von ihm habe:
Von seiner Leidenschaft für das Malen und für den Sommer.
Die Lebensfreude, das Leben so für sich selbst so bunt wie möglich zu gestalten.
Ich glaube nur, irgendwo auf dem Weg ist mir diese Fähigkeit, die früher mal mein gesamtes Wesen war, verloren gegangen.
Manchmal, in den unerwartetsten Momenten, spielt sich in meinem Kopf dann
eine Melodie ab, dessen Text ungefähr so geht:
Ich steh‘ auf der Brücke und spuck‘ in den Kahn,
da‘ freut sich die Spucke, dass sie Kahn fahren kann.
Ich glaube, das ist dann mein Großvater, der mir von irgendwo da oben zuhört und mir zeigt, dass ein Teil von ihm mich immer begleiten wird.
Im Singen und imLachen und vor allem in der Freude über kleine Dinge.
Er erinnert mich an die Leichtigkeit, und daran, dass wir uns das Leben immer bunt gestalten können, ungeachtet der Umstände: Mit Kreativität, und Keksen,
und Zeit in der Natur.
Ich hoffe, er sitzt in von goldenem Licht durchfluteten Räumen und singt und lacht dröhnend laut mit seinem guten Freund mit Herrn L., und ich hoffe, dass er, wo immer er ist, eine ganz eigene Keksdose hat.
Und ich gebe die Hoffnung nicht auf, irgendwann doch einmal den Keks zu finden, der so besonders ist, dass ich eine ganze Dose davon nur für mich allein haben will.
Aber bis dahin mache ich es wie mein Großvater und gestalte mir ein Leben, in dem es so viele heiteren Stunden gibt, dass ich sie kaum noch zählen kann – und nur zur Sicherheit bleibe ich fürs Erste lieber beim Eis.
Hast du Erinnerungen an Keksdosen-Momente?
Ich freu mich über einen Kommentar.
2 Antworten auf „Die Keksdose meines Großvaters – oder was es wirklich braucht, um glücklich zu sein“
Hallo Kim,
ich bin eine Kollegin deiner Mutter und habe gerade von der Kolumne gehört und mir kommen gerade die Tränen… sehr rührend die Geschichte. Erinnert mich an meinen Vater, den ich im Januar plötzlich verloren habe. Schön, dass es diese Erinnerungen gibt, die immer bleiben werden!
Ach liebe Martina, vielen lieben Dank für deine berührenden Worte! Wie schön, dass du hier vorbeischaust.
Tut mir sehr leid, dass du deinen Vater verloren hast.
Aber ja, Erinnerungen sind so ein wertvoller Schatz den wir zum Glück immer im Herzen tragen und mit anderen teilen können.
Ich wünsche dir alles Liebe.